Mit drei Jahren landete das erste Video von Swan auf Youtube. Vier Jahre später hat er Millionen Abonnenten und seine Eltern reich gemacht. Ein weltweites Phänomen.
In Frankreich fordern Kinderschützer nun Grenzen durch Justiz und Politik.
Herzlich wie gewohnt begrüßt Mutter Sophie ihre Söhne, den siebenjährigen Swan und seinen Bruder Néo, 14 Jahre alt, sowie deren Fangemeinde vor dem Bildschirm. Vor Mamas Videokamera fläzen sich die beiden Jungs auf einer schicken Couch im Garten ihres Feriendomizils. Hinter dem Olivenhain ist das Meer zu erahnen.
Im Podcast der Weltzeit sprechen wir mit dem Bremer Medienpädagogen Markus Gerstmann über das weltweite Phänomen der Kinder-YouTuber und die Folgen.
Stolz erklärt Néo, sie seien in „ihrem Ferienhaus“ in Korsika, da korrigiert flugs die Mutter, die tolle Villa sei lediglich für einen Kurztrip angemietet. Die Jungs rutschen auf der Couch herum, sie wollen Verstecken spielen. Der siebenjährige Swan hüpft davon. Gelegenheit für die Mutter, mit ziemlich professionellem Kameraschwenk das prachtvolle Anwesen zu präsentieren.
20 Minuten dauert das Video auf dem Youtube-Kanal « Swan the Voice„. Innerhalb von vier Wochen wurde es fast eine Million Mal angeklickt. Nicht ungewöhnlich für Néo und Swan. Ihr Youtube-Kanal hat rund vier Millionen Abonnenten, die regelmäßig ihre Videofilmchen schauen. Damit liegen die beiden in Frankreich ganz vorn unter den Kinder-Youtubern. Eine Szene, die wächst. Minderjährige bringen Klicks. Von Minderjährigen.
Marken-Spielzeug und Luxusferien für die Kamera
Im Asterix-Park nahe Paris sausen Kalys und Athéna auf der Achterbahn rauf und runter. « Studio Bubble Tea » nennt sich ihr Youtube-Kanal. Die Schwestern, elf und sieben Jahre alt, berichten vor Papas Kamera ihren Zuschauern eine geschlagene halbe Stunde lang von ihrem Ausflug zu den Galliern. Gut 40.000 Mal wurde das Video innerhalb einer Woche aufgerufen. Eher unterdurchschnittlich für die beiden Mädchen. Schließlich haben sie insgesamt 1,5 Millionen Abonnenten.
Kalys und Athéna wie auch Néo und Swan gelten in Frankreich als Superstars der sogenannten „Unboxing-Videos“. Dabei filmen die Eltern, wie ihre Kinder Geschenke auspacken: Kistenweise Marken-Spielzeug, das ihnen oftmals vom Hersteller zugeschickt wurde und das in den Videoclips sehr prominent ins Bild gerückt wird.
Daneben gibt es Clips, in denen die Kinder Bonbons und Hamburger futtern, Buntstifte testen und bei Luxusferien das dortige Tourismus-Programm absolvieren. Solche Inhalte laufen bei Youtube unter „Familien-Kanal“ und davon gibt es inzwischen in Frankreich und anderswo hunderte. Denn die vorgeblichen Freizeitvergnügen der minderjährigen Protagonisten locken Hunderttausende vor den Bildschirm, allen voran kleine Kinder zwischen drei und neun Jahren. Mancher Dreikäsehoch pilgert gar mit den Eltern zu Auftritten seiner Idole.
Autogramme für fünfjährige Fans
Für eine Reportage begleitet ein Team des öffentlichen Fernsehsenders „France 2“ Néo und Swan in einen Freizeitpark, wo die Brüder eine neue Attraktion einweihen. Da stehen die Fans der beiden Jungs Schlange. Vor lauter Aufregung beginnt eine Fünfjährige vor laufender Kamera zu weinen.
„Das war mein Traum, mal Néo und Swan zu treffen. Ich schaue immer ihre Videos, es ist toll, was sie machen und was sie alles haben. Ich habe meinen Eltern schon gesagt, dass ich die Spiele will, die ich bei Néo und Swan gesehen habe.“
Auch im Blick des kleinen Jungen neben ihr schimmert es verdächtig: „Ihre Videos sind toll. Ich bete die beiden an. Sie haben alles, was sie wollen.“
Nach einer einstündigen Autogramm-Session wirkt der kleine Swan recht geschafft. Nun, solch ein Marathon sei eher selten, versichert Mutter Sophie dem Fernsehteam:
„Die Arbeit haben die Eltern, mein Mann kümmert sich um die Technik. Ja, wir haben viel Arbeit mit unserem Youtube-Kanal, das machen wir für unsere Kinder. Die hingegen arbeiten keineswegs, sie amüsieren sich. Wir filmen sie in ihrer Freizeit, bei einem Gesellschaftsspiel, einem Wettbewerb oder beim Bummel in einem Freizeitpark. Für sie ist das keine Arbeit, sie werden zu nichts gezwungen.“
Täglich ein neues Video
Vor vier Jahren hat Mutter Sophie das allererste Video mit ihren Söhnen online gestellt. Mittlerweile sind es über 1500 Clips. Macht also im Schnitt jeden Tag ein neues Video mit Néo und Swan. Insgesamt gab es dafür bisher sage und schreibe 3,5 Milliarden Klicks.
Wenig beeindruckt vom Inhalt der Clips zeigen sich Romane und Hugo, zwei Teenager, 13 und 15 Jahre alt. Sie zählen sich nicht zu den Fans. Kopfschüttelnd sitzen sie vor dem Video aus dem Korsika-Urlaub.
„Ja, ich kenne Néo und Swan. Aber ich mag ihre Videos überhaupt nicht. Auf mich wirken die beiden völlig überdreht, wie richtige Schauspieler. Was sie tun, wurde ihnen sicher von den Eltern befohlen. Ganz ehrlich, mir kommt es nicht so vor, als hätten sie Spaß an dem Ganzen.“
Die schärfsten Konkurrentinnen von Néo und Swan kennt Romane nicht. Hugo klickt ein Video von „Studio Bubble Tea“ an. Das zeigt Kalys und ihre Schwester Athéna, wie sie zuhause ein Glücksrad drehen und 500 Euro gewinnen. Romane verzieht das Gesicht.
„Auf solche Spiele habe ich keinen Bock. Ich finde es nicht ok, in dem Alter so viel Geld zu gewinnen. Na, kein Wunder, dass bei denen der Rubel rollt. Vor jedem Clip läuft viel Werbung. Ab einer gewissen Klick-Zahl kriegen die Macher dann Geld von YouTube. Wer so mit Geld wie Heu aufwächst, weiß doch gar nicht, wie es im richtigen Leben zugeht. Das finde ich ziemlich blöd.“
Laut Schätzungen von Experten erhalten die beliebtesten „Familien-Kanäle“ 10.000 bis 50.000 Euro pro Monat von YouTube beziehungsweise vom Mutterkonzern Google. Denn: Je mehr Zuschauer ein Kanal anzieht, desto mehr sind Markenfirmen interessiert, dort Werbung zu schalten. Die Spots laufen vor und während der Videos. Die Werbeeinnahmen streicht Google ein. Aus diesem Geldtopf fließt ein Teil an die YouTuber, deren Online-Videos eine bestimmte Klick-Zahl erreichen. Die genauen Summen werden geheim gehalten. Klar ist: Wer viele Fans hat, wird reich. Weiß auch Hugo.
„In Néos Zimmer stehen vier Spielekonsolen, ein Flachbildschirm, ein Apple-Computer. Grob gesprochen eine Ausrüstung für 10.000 Euro. Für einen 14-Jährigen ist das viel zu viel. Er kann nicht mehrere Konsolen gleichzeitig bedienen. Und er muss diesen Überfluss ja auch seelisch verkraften.“
Kinderschutzverein spricht von Kinderarbeit
Sorgen um die Kinder-Stars der „Familien-Kanäle“ macht sich auch Thomas Rohmer. Er leitet in Paris einen Kinderschutzverein namens « Observatoire de la parentalité et de l’éducation numérique » – also: „Beobachtungsstelle für Elternschaft und digitale Erziehung“. In dieser Tätigkeit beobachtet er die Szene der Kinder-Youtuber in Frankreich sehr aufmerksam:
„Solche Videos gibt es immer öfter und in immer kürzeren Abständen. Das lässt uns befürchten, dass die Kinder, die da gefilmt werden, keine echte freie Zeit mehr kennen. Dass die Videoproduktion für sie zur einzigen Freizeitbeschäftigung geworden ist. Deshalb haben wir den Staatsanwalt gebeten, zu klären, ob es sich bei diesen Produktionen um illegale Kinderarbeit handelt. Wir vom Kinderschutzverein denken, das dem so ist.“
Rohmers Anliegen: Er will die Arbeitsrechtsbestimmungen, die in Frankreich für Minderjährige in künstlerischen Bereichen gelten, auch auf das Internet ausdehnen, insbesondere auf die „Familien-Kanäle“ von YouTube. Denn der „Code de travail“ regelt in Frankreich sehr strikt den Schutz von unter 16-Jährigen, ob sie nun als Models, in der Werbung oder auf der Bühne und beim Film tätig sind, erklärt Anwältin Bénédicte Querenet-Hahn.
„Die Eltern müssen eine Genehmigung bei einer speziellen Kommission einholen. In der sitzen auch Kinderexperten. Da wird von Fall zu Fall bestimmt, wie lange das Kind arbeiten darf und wie mit seinem Lohn zu verfahren ist. Ein Teil des Geldes kann den Eltern zukommen, aber der Rest, wenn nicht alles, muss auf ein Treuhandkonto gehen. An das kommt das Kind erst ran, wenn es volljährig ist.“
Auflagen, die die Eltern der minderjährigen Youtube-Stars nicht beachten. Die Staatsanwaltschaft in Paris hat sich zur Anfrage des Kinderschutzvereins bislang nicht geäußert. Seit Ende letzten Jahres beschäftigt sich auch, auf Bitte eines Abgeordneten der Regierungspartei, das Pariser Arbeitsministerium mit der Frage, ob es spezielle Regelungen für Kinder auf Youtube-Kanälen braucht. Der arbeitsrechtliche Schutz sei im Übrigen nur ein Aspekt, stellt Anwältin Bénédicte Querenet-Hahn klar. Ein anderer sei der Schutz der minderjährigen Zuschauer:
„Manches Video ist sehr lang und enthält mehrere Werbeeinblendungen. Aber bei uns ist die Werbung für Kinder strikt reglementiert. Bei den Youtube-Videos, vor denen zumeist kleine Kinder sitzen, stellt sich die Frage, ob die Werbeeinblendungen für diese Altersgruppe konform sind. Zudem filmen die Eltern ihre Kinder beim Auspacken von Markenspielzeug, da sind wir beim Thema Schleichwerbung. Um gar nicht davon zu reden, dass sich die minderjährigen Youtuber vor der Kamera mit Bonbons vollstopfen. Das ist wegen des Kinderschutzes in der herkömmlichen Werbung absolut verboten.“
Eltern gründen Firmen zur Vermarktung der Kinder
Der siebenjährige Swan sitzt neben dem gläsernen Hamster-Käfig und sinniert, wie gut es „Nuts“ doch habe – der Hamster müsse nicht zur Schule. Eine Szene, die wie heile Kinderwelt wirkt.
Sorgsam von der Mutter in Szene gesetzt, um so viele Klicks wie möglich zu erzielen. Denn die bringen bare Münze. Im Falle von Néo und Swan, so der Branchenfachdienst Social Blade, schätzungsweise 500.000 Euro jährlich. Eine Bitte um Stellungnahme diesbezüglich lehnte Google in Frankreich ab. Offensichtlich ist allerdings: Die Eltern dieser Kinder-Stars haben ihr Familien-Video-Hobby zum Beruf gemacht. Sie haben Firmen gegründet, sich die Markennamen der Kinder sichern lassen. Zur wirtschaftlichen Diversifizierung setzt der Vater von Kalys und Athéna auf eine eigene Spielzeug-Marke. Die Eltern von Néo und Swan unter anderem auf Bastelbücher, in denen ihre Söhne auch Kochrezepte und Spiele präsentieren. Ein Ende der Fahnenstange scheint nicht abzusehen, meint Kinderschützer Thomas Rohmer leicht fassungslos.
„Wenn ich mit meiner Tochter in der Freizeit Tretroller fahren möchte, brauche ich dafür doch keine Firma zu gründen. Da decken die Familien-Kanäle die Bigotterie der Eltern auf, die nicht zugeben wollen, dass es sich dabei um eine wirtschaftliche Aktivität handelt. Wir verlangen nicht das Verbot solcher Clips, sondern Regelungen zum besseren Schutz der Kinder beim Dreh.“
Eine Zielsetzung, für die der Aktivist auch den „Conseil national de la protection de l’enfance“ auf seine Seite gebracht hat. Der „Nationale Rat für den Kinderschutz“ in Frankreich untersteht dem Premier-Minister, als Vize-Präsidentin fungiert Michèle Créoff.
„Solche Videos erwecken in mir ein sehr ungutes Gefühl. Ich frage mich, wie die Eltern wohl über ihre Rolle als Erzieher, als Träger elterlicher Verantwortung denken. Ob sie sich vorstellen können, wie es ihren Sprösslingen auf dem Pausenhof ergeht, wenn sie im Internet tausende Fans haben. Wie es ihnen gelingen soll, Freundschaften zu schließen, Selbstvertrauen zu entwickeln. Wie sie ihre Persönlichkeit formen können, wenn die eigenen Eltern sie als Werbeträger einsetzen. So systematisch und häufig und indem sie das Posten von Youtube-Videos zur einzigen Einnahmequelle machen. Da steht die Welt doch auf dem Kopf!“
Es geht um Narzissmus und perfekte Selbstdarstellung
Hell und heiter wirkt die Kinderwelt in den Youtube-Clips. Doch die Schatten dahinter seien lang, sagt der Kinderpsychiater Pierre Huerre.
„Dass die Bilder von Kindern und ihrem Alltagsleben in den sozialen Medien ausgestellt werden, wirft viele Fragen auf. Da geht es um Narzissmus, um den Versuch, sich mit einer perfekten Selbstdarstellung der eigenen Existenz zu versichern. Kurzfristig gesehen ist es ziemlich unangenehm, wenn ein Kind glaubt, nur so existieren zu können. Hinzu kommt, mittel- und langfristig gesehen, dass ein Kind nicht abschätzen kann, welche Folgen es hat, sollte es beim Eintritt ins Erwachsenenalter mit den Bildern aus der Kindheit konfrontiert werden.“
Den Kindern ist das nicht zur Last zu legen. Ihren Eltern schon eher. Für Huerre verweist der Boom der „Familien-Kanäle“ auf Youtube gewissermaßen auf einen Orientierungsverlust der heutigen Elterngeneration: Traditionelle Erziehungsratgeber wurden als überaltert ausgemistet. Dafür nun das eigene Wertesystem einzubringen, kommt den meisten mangels Selbstvertrauen nicht in den Sinn, meint der Psychiater. Das kann dann zur Konstruktion einer Wirklichkeit führen, die letztendlich wenig heimelig wirkt. Sehr aufmerksam hat Anwältin Bénédicte Querenet-Hahn das Video von Néo und Swan in der schicken Ferienvilla auf Korsika studiert.
„Da sieht man nirgendwo eine Schale Obst, eine unaufgeräumte Tasse oder einen Mantel an der Garderobe. Ganz offensichtlich verbringt die Familie hier nicht ihre Ferien. Das Versteckspiel der Kinder dient lediglich dazu, für die Villa Werbung zu machen.“